"Ein Tag im Februar"

Ein Mittwoch im Februar! Ich bin zuhause und gehe alles noch etwas langsam an, weil ich mich von einem grippalen Infekt noch etwas erholen muss. Mittags rief mich Friedrich an und berichtete, dass unsere Flüchtlingsfamilie heute abgeschoben werden sollte. Nachdem sie wohl untergetaucht seien, seien sie jetzt wieder zurück. „Unsere Flüchtlingsfamilie“, wer ist das?

Nun, es ist eine Familie mit vier Kindern; der älteste Junge ist 10 Jahre alt, das Mädchen 6 Jahre und die Zwillinge ein Jahr alt. Sie leben in einer Wohnung unserer Gemeinde, die wir für Flüchtlinge zur Verfügung an die Stadt Dortmund vermietet haben. Wir besuchen die Familie hin und wieder, helfen ihnen, wenn sie etwas brauchen. Zuletzt besuchte ich sie vor Weihnachten mit ein paar Weihnachtsgeschenken für die Kinder. Sie haben sich so gefreut über die kleinen Geschenke, die ich ihnen mitbrachte!

Die beiden älteren Kinder besuchen die wohnortnahe Grundschule. Beide sprechen schon sehr gut Deutsch. Der Junge übersetzt immer schon für seine Mutter, die zwar etwas Englisch, aber nur wenig Deutsch spricht. Leider hat sie wegen der Zwillinge keine Chance, einen Deutschkurs zu besuchen, denn es gibt hier in der Nähe anscheinend keine Kurse, die parallel eine Kinderbetreuung anbieten.

Ich entschloss mich, die Familie zu besuchen, um Näheres zu erfahren. Die Mutter zögerte, mich herein zu lassen. Es sei alles sehr unordentlich, sagte sie mir. Ich antwortete, dass ich gehört habe, was passiert sei. Daraufhin lud sie mich ins Wohnzimmer ein. In der Wohnung sah es chaotisch aus. Überall standen Koffer, Kleidung lag überall herum, Spielzeug stand in Tüten im Kinderzimmer, die Betten waren leer, das Bettzeug lag auch noch unbezogen herum. Die Mutter versuchte gerade, die Zwillinge in den Schlaf zu schaukeln. Sie waren so durcheinander, dass sie nicht einschlafen konnten.

Der Junge und die Mutter berichteten, was geschehen war. Morgens um 6.45 Uhr hämmerten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörde an die Tür und betraten ohne abzuwarten, ob jemand öffnen würde, unterstützt von der Polizei, die Wohnung mit einem Schlüssel (die Stadt hat wohl Zweitschlüssel). Die Familie war noch nicht aufgestanden, der Junge wurde von dem Klopfen geweckt. Sie mussten sich ankleiden, durften dabei die Badezimmertür nicht schließen. Mitarbeiter der Ausländerbehörde folgten der Mutter auch in die Küche, als sie Milch für die Zwillinge zubereiten wollte. „Wir sind nicht kriminell, wir möchten hier leben. Die Kinder sollen eine gute Schulbildung bekommen! Wir machen nichts Schlimmes,“ sagte die Mutter in einer Mischung aus Englisch und Deutsch. Sie bat um die Vorlage des Abschiebungsbescheides, doch die Mitarbeiter der Behörde verweigerten es. Die Kleidung wurde in Koffer gepackt, die Kinder sollten etwas Spielzeug einpacken und dann wurde die Familie in einen Bus verfrachtet und zum Flughafen nach Düsseldorf gefahren. Unterwegs konnten sie dann Kontakt zu ihrem Anwalt aufnehmen, dem es wohl gelang, die Abschiebung auszusetzen. Mittags gegen 13.30 Uhr war die Familie dann wieder zuhause.

Die Mutter versuchte, mir einige Informationen zu geben. Sie hätten vorher keinen Bescheid darüber erhalten, dass ihr Asylantrag abgelehnt worden sei, der Termin sei eigentlich am 21. Februar. Auch hätten sie keine Information über eine mögliche Abschiebung erhalten. Sie seien wie Kriminelle behandelt worden und hätten doch nichts getan. Sie sollten nach Albanien zurück. Doch von dort seien sie nicht gekommen, sie lebten seit 20 Jahren in Griechenland und hätten auch ein „griechisches Papier“ (aber wohl keinen Pass). Wenn sie denn zurück müssen, dann würden sie gehen. „Aber wohin“, fragte die Mutter, „wir haben nichts mehr, nicht in Griechenland und schon gar nicht in Albanien“.

Die beiden älteren Kinder hat das Ganze besonders mitgenommen. Das Mädchen war mehr oder weniger sprachlos und kuschelte sich in meinen Arm. Der Junge war sehr aufgewühlt. „Ich konnte nicht mal auf die Toilette gehen, sollte ich denn meine Hose vor den Fremden herunterziehen? Und in die Schule konnte ich nicht, was soll ich morgen da nur sagen, weshalb ich nicht da war? Ich kann das doch nicht erzählen! Und ich brauch doch einen Zettel! (Er meinte eine schriftliche Entschuldigung). Die hatten alle Handschuhe an, und wir haben doch keine Krankheiten. Und gelacht haben die auch noch! Bestimmt über uns!“ Ich fragte ihn, warum er hier denn lieber zur Schule geht als in Griechenland? „In Griechenland kamen die Nazis in die Schule, sie haben die Kinder, die keine Griechen waren, verhauen. Hier ist Schule gut und macht Spaß.“

Ich versuchte, den Kindern zu erklären, warum man Handschuhe anziehen muss und dass die Leute bestimmt nicht über sie gelacht haben. Warum der Familie allerdings kein Papier vorgelegt wurde, aus dem der Abschiebungsgrund hervorgeht, konnte ich ihnen nicht sagen. Ich versprach dem Jungen, dass ich mit der Schulleitung sprechen werde, warum er und seine Schwester nicht in der Schule waren. Die Schulleiterin war wie ich fassungslos. Sie sagte, dass beide Kinder sehr engagiert in der Schule seien und dass es ganz traurig wäre, wenn sie hier herausgerissen würden.

Ja, ich weiß, die Meinungen sind kontrovers. Viele rufen laut nach Abschiebung der Menschen, die „nur“ aus wirtschaftlicher oder allgemeiner Not hier her kommen. Aber auch hinter diesen Gruppen von Asylsuchenden stehen Menschen, Kinder, Frauen und Männer mit einer verletzlichen Seele!

Ich bin sehr entsetzt über so ein Vorgehen der Behörden. Ich habe nicht nachgeprüft, ob es vorher schon Schreiben gegeben hat, oder Abschiebungsversuche, denen sich die Familie entzogen hat. Ich weiß auch nicht, ob dem Vater vielleicht Papiere vorgelegt wurden. Ich möchte keine Behörden- und Polizeiwillkür unterstellen, zum einen, weil mir die schwierige Situation der Behörden bewusst ist, zum anderen, weil ich nicht nachgefragt habe (noch nicht). Doch so geht man mit Menschen nicht um!

Trotz allem: ich appelliere an alle Verantwortlichen: Zeigen Sie Verständnis und Mitgefühl, auch wenn abgeschoben werden muss! Denken Sie daran, wie Ihr Verhalten insbesondere auf Kinder wirkt, die sowieso schon viel Schreckliches erlebt haben!

Und sorgen Sie endlich dafür, dass die Menschen, die keine Chance auf ein Bleiberecht haben, zeitnah informiert werden, so dass sie nicht erst Fuß fassen und dann wieder herausgerissen werden!

Was ich allerdings als unzumutbar ansehe: die Familie lebt seit über einem Jahr in Deutschland, die Kinder haben sich außerordentlich gut in der Schule eingelebt, sprechen sehr gut Deutsch in diesem einen Jahr, und jetzt wird ihnen alles wieder genommen. Ja, sicher sind sie gekommen, weil es ihnen in Deutschland besser geht, weil sie eine bessere Schulbildung für die Kinder sehen, weil der Vater hofft, hier Arbeit zu bekommen usw.

Wir haben selbst vier Kinder. Wären wir nicht auch gegangen, wenn unsere Familie hier keine Chance gehabt hätte? Hätten wir nicht auch alles auf uns genommen, um unseren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen? Ich kann nur sagen: JA! Und nochmals JA!

Abends in den Nachrichten hörte ich dann, dass der Bau der Elbphilharmonie in Hamburg über 800 Millionen Euro kostet. Was uns der neue Berliner Flughafen kostet, vermag man kaum zu sagen!

In was für einer Welt leben wir?

Mittwoch, 03.02.2016                              

Monika Berg

 

Anmerkung: auf die Nennung von Namen und Orten habe ich aus Sicherheitsgründen Abstand genommen.

Nachtrag: Heute wurde unsere Flüchtlingsfamilie abgeschoben nach Griechenland. Warum: Sie haben zwar 20 Jahre in Griechenland gelebt, aber nicht die griechische Staatsbürgerschaft. Sie sind Albaner und Albanien wurde zum sicheren Herkunftsland deklariert. Als ich die Familie am Freitag noch einmal besuchte, waren sie sehr traurig, besonders die beiden älteren Kinder. Beiden standen die Tränen in den Augen, das Mädchen saß auf dem Sofa und hielt ihr Abschiedsgeschenk aus der Schule, den Klassenfuchs, in ihren Armen.

Montag, 21.03.2016